Frist gewahrt: Schriftsatz trotz falschem Aktenzeichen bei Gericht eingegangen

BRAK, Mitteilung vom 17.05.2024 zum Beschluss VI ZR 166/22 des BGH vom 12.03.2024

Ist auf einem Schriftsatz das falsche Aktenzeichen angegeben und wird es deshalb bei Gericht falsch zugeordnet, ist die Frist dennoch gewahrt.

Ein Schriftsatz, der aufgrund eines falsch angegebenen Aktenzeichens nicht rechtzeitig zur Verfahrensakte gelangt, ist dennoch fristgemäß bei Gericht eingegangen, wenn er sich aus anderen Gründen dem Verfahren eindeutig zuordnen lässt, so der BGH (Beschluss vom 12.03.2024, Az. VI ZR 166/22).

In einem Schadensersatzprozess hatte das Gericht einen Hinweis gegeben und die Frist zur Stellungnahme hierzu bereits verlängert. Als innerhalb der Frist keine Stellungnahme zu den Akten des Verfahrens gelangte, verwarf das OLG bereits einen Tag später die Berufung. Tatsächlich hatte die Klägerin den besagten Schriftsatz aber rechtzeitig an das Gericht geschickt. Aufgrund eines Tippfehlers begann das Aktenzeichen jedoch mit „99“ statt mit „9“, sodass der Schriftsatz zunächst gerichtsintern dem falschen Senat zugeordnet wurde. Der zuständige Senat erhielt den Schriftsatz erst, nachdem er die Berufung bereits verworfen hatte. Die Nichtzulassungsbeschwerde beim BGH hatte aber Erfolg, die Vorinstanz muss nun erneut über die Sache entscheiden.

BGH: Hauptsache, der Schriftsatz lässt sich zuordnen

Der BGH sah in der Entscheidung des OLG eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Es sei nur entscheidend, dass der Schriftsatz innerhalb der Frist an das Gericht gelangt sei. Unerheblich sei dagegen, ob er innerhalb der Frist in die richtige Akte eingeordnet wird. Schließlich schreibe das Gesetz in den § 129 Abs. 1, § 130 ZPO die Angabe eines Aktenzeichens nicht vor. Die Angabe eines Aktenzeichens solle lediglich die Weiterleitung innerhalb des Gerichts erleichtern und für eine rasche Bearbeitung sorgen. Es handele sich um eine reine Ordnungsmaßnahme, die für die Sachentscheidung ohne Bedeutung sei, so der BGH.

Dem Schriftsatz müsse lediglich zweifelsfrei zu entnehmen sein, zu welchem Verfahren er eingereicht werden soll. Dies sei vorliegend der Fall gewesen: Die Parteien des Rechtsstreits seien korrekt angegeben gewesen, zudem sei durch die Bezugnahme auf den Hinweisbeschluss deutlich geworden, auf welches Verfahren sich die Ausführungen bezögen.

Quelle: Bundesrechtsanwaltskammer

Erwerbstätigkeit in Deutschland steigt im 1. Quartal 2024 leicht

Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung vom 17.05.2024

Dienstleistungen mit Beschäftigungszuwachs, Rückgänge im Produzierenden Gewerbe und im Baugewerbe

Erwerbstätige mit Arbeitsort in Deutschland, 1. Quartal 2024
+0,1 % zum Vorquartal (saisonbereinigt)
-0,9 % zum Vorquartal (nicht saisonbereinigt)
+0,3 % zum Vorjahresquartal

Im 1. Quartal 2024 waren rund 45,8 Millionen Personen in Deutschland erwerbstätig. Nach vorläufigen Berechnungen des Statistischen Bundesamtes (Destatis) stieg die Erwerbstätigenzahl im Vergleich zum Vorquartal saisonbereinigt um 38.000 Personen (+0,1 %) nach einem Zuwachs von 21.000 Personen (0,0 %) im 4. Quartal 2023 und einem Rückgang von 10.000 Personen (0,0 %) im 3. Quartal 2023. Damit hat sich die Erwerbstätigkeit zum Jahresbeginn 2024 leicht positiv entwickelt (siehe auch Pressemitteilung Nr. 171 zur Erwerbstätigkeit im März 2024 vom 30. April 2024).

Ohne Saisonbereinigung ging die Zahl der Erwerbstätigen gegenüber dem 4. Quartal 2023 um 404.000 Personen oder 0,9 % zurück. Ein Rückgang der Erwerbstätigkeit ist im 1. Quartal eines Jahres saisonal üblich. Im Jahr 2024 war die Abnahme allerdings stärker als im Durchschnitt der Jahre 2022 und 2023 (-283.000 Personen; -0,6 %).

Vorjahresvergleich: Aufwärtstrend weiter verlangsamt

Verglichen mit dem 1. Quartal 2023 stieg die Zahl der Erwerbstätigen im 1. Quartal 2024 um 129.000 Personen (+0,3 %). Damit setzte sich der Beschäftigungsanstieg im Vorjahresvergleich zwar weiter fort, die Dynamik ließ jedoch deutlich nach (4. Quartal 2023: +212.000 Personen; +0,5 %).

Dienstleistungsbereiche mit stärkstem Beschäftigungszuwachs

Im 1. Quartal 2024 trugen weit überwiegend die Dienstleistungsbereiche zum Anstieg der Erwerbstätigenzahl gegenüber dem Vorjahresquartal bei (+158.000 Personen; +0,5 %). Der größte Zuwachs darunter fand im Bereich Öffentliche Dienstleister, Erziehung, Gesundheit mit +160.000 Personen (+1,3 %) statt. Alle anderen Beschäftigungsentwicklungen innerhalb der Dienstleistungsbereiche blieben dagegen absolut gesehen gering: Die zweitgrößte absolute Zunahme im 1. Quartal 2024 betraf den Bereich Sonstige Dienstleistungen (unter anderem Verbände und Interessenvertretungen) mit +16.000 Personen (+0,5 %), gefolgt von den Finanz- und Versicherungsdienstleistern mit +5.000 Personen (+0,5 %) und Information und Kommunikation (+5.000 Personen; +0,3 %). Im Bereich Handel, Verkehr und Gastgewerbe gab es nur einen sehr geringen Zuwachs von 3.000 Personen (0,0 %). Bei den Unternehmensdienstleistern, zu denen auch die Vermittlung und Überlassung von Arbeitskräften gehört, sank die Zahl der Beschäftigten nach einem Nullwachstum im 4. Quartal 2023 erstmals seit dem 1. Quartal 2021, und zwar um 28.000 Personen (-0,4 %).

Aufwärtstrends im Produzierenden Gewerbe und im Baugewerbe beendet

Im Produzierenden Gewerbe (ohne Baugewerbe) ging die Erwerbstätigenzahl im 1. Quartal 2024 gegenüber dem Vorjahresquartal erstmals seit dem 4. Quartal 2021 wieder zurück (-16.000 Personen; -0,2 %). Im Baugewerbe ist der seit dem 4. Quartal 2015 langanhaltende Aufwärtstrend nach einer Stagnation im Vorquartal zu Ende gegangen: Hier sank die Beschäftigung im 1. Quartal 2024 um 20.000 Personen (-0,8 %). In der Land- und Forstwirtschaft, Fischerei stieg die Zahl der Erwerbstätigen um 7.000 Personen (+1,3 %).

Mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, weniger Selbstständige

Zum Anstieg der Erwerbstätigkeit gegenüber dem Vorjahresquartal um 0,3 % trug im 1. Quartal 2024 maßgeblich die positive Entwicklung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung bei. Leichte Beschäftigungsverluste gab es bei der Zahl der Beschäftigten mit ausschließlich marginalen Tätigkeiten (geringfügig entlohnte und kurzfristig Beschäftigte sowie Personen in Arbeitsgelegenheiten). Insgesamt erhöhte sich die Zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im 1. Quartal 2024 im Vergleich zum 1. Quartal 2023 um 168.000 (+0,4 %) auf 41,9 Millionen Personen. Die Zahl der Selbstständigen einschließlich mithelfender Familienangehöriger ging dagegen weiter zurück. Ihre Zahl sank im Vorjahresvergleich um 39.000 Personen (-1,0 %) auf 3,9 Millionen.

Arbeitsvolumen nimmt um 0,6 % ab

Die durchschnittlich geleisteten Arbeitsstunden je erwerbstätiger Person reduzierten sich nach ersten vorläufigen Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit im 1. Quartal 2024 im Vergleich zum Vorjahresquartal um 0,8 % auf 344,5 Stunden. Das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen – also das Produkt aus der gestiegenen Erwerbstätigenzahl und den verringerten geleisteten Stunden je erwerbstätiger Person – nahm im gleichen Zeitraum um 0,6 % auf 15,8 Milliarden Stunden ab.

Erwerbstätigenzahlen in der EU

Nach Angaben des europäischen Statistikamtes Eurostat vom 15. Mai 2024 stieg die nach europäisch harmonisierten Methoden berechnete Erwerbstätigkeit im 1. Quartal 2024 in den 27 Staaten der Europäischen Union (EU) mit +0,7 % und im Euroraum mit +1,0 % gegenüber dem Vorjahresquartal durchschnittlich stärker als in Deutschland (+0,3 %).

Quelle: Statistisches Bundesamt (Destatis)

„Klimaklagen“ der DUH erfolgreich

OVG Berlin-Brandenburg, Pressemitteilung vom 16.05.2024 zu den Entscheidungen OVG 11 A 22/21, OVG 11 A 31/22 vom 16.05.2024

Der 11. Senat des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg hat heute Klagen der Deutschen Umwelthilfe stattgegeben und die Bundesregierung verurteilt, das Klimaschutzprogramm 2023 um die erforderlichen Maßnahmen zu ergänzen, damit das Klimaschutzziel nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 Klimaschutzgesetz für das Jahr 2030 erreicht, die in Anlage 2 zum Klimaschutzgesetz festgelegten sektorspezifischen Jahresemissionsmengen eingehalten sowie die Klimaschutzziele für den LULUCF-Sektor nach § 3a Abs. 1 Klimaschutzgesetz erreicht werden.

Zum Hintergrund: Die Bundesregierung hat am 4. Oktober 2023 auf der Grundlage von § 9 Klimaschutzgesetz das Klimaschutzprogramm 2023 beschlossen. Der Senat ist zu der Überzeugung gelangt, dass dieses die gesetzlichen Vorgaben nicht vollständig erfülle, da es die verbindlichen Klimaschutzziele und den festgelegten Reduktionspfad für die einzelnen Sektoren bis auf den Sektor Landwirtschaft nicht einhalte. Zudem hat der Senat festgestellt, dass das Klimaschutzprogramm 2023 an methodischen Mängeln leide und teilweise auf unrealistischen Annahmen beruhe.

In einem Verfahren haben zusätzlich drei natürliche Personen geklagt, die ihre Klagen im Laufe der mündlichen Verhandlung zurückgenommen haben.

Die Revision zum Bundesverwaltungsgericht wurde zugelassen.

Quelle: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg

Bayerisches Landessozialgericht erkennt Thrombose nicht als Corona-Impfschaden an

LSG Bayern, Pressemitteilung vom 16.05.2024 zum Urteil L 15 VJ 2/23 vom 30.04.2024

Für den „Nachweis“ des Zusammenhangs zwischen einer Unterschenkelvenenthrombose und einer Impfung mit einem mRNA-Impfstoff gegen COVID-19 genügt zwar der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit. Fehlende konkurrierende Ursachen reichen aber nicht aus.

Der Fall

Der 1968 geborene Kläger wurde am 03.07.2021 mit dem Impfstoff Comirnaty (Biontech/Pfizer) gegen COVID-19 geimpft. Am 16.07.2021 wurde bei ihm eine Unterschenkelvenenthrombose rechtsseitig diagnostiziert. Den vom Kläger daraufhin gestellten Antrag auf Anerkennung und Entschädigung eines Impfschadens lehnte der beklagte Freistaat Bayern mit der Begründung ab, dass sich nach den Erkenntnissen des Paul-Ehrlich-Instituts für den Impfstoff Comirnaty keine signifikante Erhöhung an Thromboseereignissen ergebe. Auch der Widerspruch, den der Kläger im Wesentlichen damit begründet hatte, dass sich die Beschwerden bereits wenige Tagen nach der Impfung eingestellt hätten, blieb erfolglos. Das Sozialgericht München wies die Klage ab, nachdem der mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens beauftragte Internist zu dem Ergebnis gekommen war, dass im direkten Anschluss an die Impfung keine Gesundheitsstörung dokumentiert worden sei.

Die Entscheidung

Das LSG hat die Berufung mit Urteil vom 30.04.2024 zurückgewiesen, nachdem auch die durch den Senat beauftragte Kardiologin in ihrem Sachverständigengutachten zu dem Ergebnis gekommen war, dass die vom Kläger erlittene Unterschenkelvenenthrombose nach den Erkenntnissen der evidenzbasierten Medizin nicht in einem kausalen Zusammenhang mit der COVID-19-Impfung mit dem mRNA-Impfstoff Comirnaty stehe.

Die Anerkennung als Impfschaden gemäß § 2 Nr. 11, 1. Halbsatz Infektionsschutzgesetz (IfSG) setze voraus, dass die Schutzimpfung zu einer gesundheitlichen Schädigung, also einem „Primärschaden“ in Form einer Impfkomplikation geführt habe, die wiederum den „Impfschaden“, d. h. die dauerhafte gesundheitliche Schädigung, also einen „Folgeschaden“ bedinge. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen müsse im Vollbeweis nachgewiesen sein. Hierfür ausreichend, aber auch erforderlich sei ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch am Vorliegen der Tatsachen zweifele und somit eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit vorliege. Für den ursächlichen Zusammenhang zwischen den drei Gliedern der Kausalkette reiche nach § 61 Satz 1 IfSG der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit aus.

Ausgehend von diesen Grundsätzen habe sich der Senat nicht davon überzeugen können, dass beim Kläger ein Impfschaden vorliege, weil es bereits am Nachweis einer Primärschädigung fehle. Die Beinvenenthrombose, die beim Kläger bestanden habe und die in einem gewissen – durchaus relativ engen – zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung aufgetreten sei, sei nicht Folge der Impfung des Klägers gegen COVID-19. Ein wahrscheinlicher Ursachenzusammenhang im o. g. Sinne sei nicht gegeben. Die Sachverständige habe plausibel dargelegt, dass es zwar durchaus Hinweise darauf gebe, dass Impfstoffe das generelle Thromboserisiko erhöhen würden. Die teilweise lebensgefährlichen Thrombosen nach COVID-19-Impfungen vor allem in hierfür ungewöhnlichen Venen würden auf der Auslösung der Bildung von Autoantikörpern durch speziell in den Vektorimpfstoffen (Astrazeneca-Vaccephrin) enthaltenen adenoviralen Antigenen beruhen. Hierdurch könne eine Signalkaskade ausgelöst werden, die zu einer massiven Thrombozytenaktivierung führe mit einerseits Thrombenbildung und andererseits Thrombozytenmangel im Blut mit Blutungsneigung (VITT). Eine derartige Konstellation mit Thrombose, Nachweis von Autoantikörpern gegen den Thrombozytenfaktor 4 und Thrombozytenmangel sei beim Kläger aber nicht festgestellt worden, vielmehr habe eine normale Thrombozytenzahl bestanden. Vor allem habe die Sachverständige darüber hinaus überzeugend dargestellt, dass eine solche Konstellation beim Kläger auch nicht zu erwarten gewesen sei, da er nicht mit einem Vektorimpfstoff, sondern mit dem mRNA-Impfstoff geimpft worden sei. Die Sachverständige habe nachvollziehbar festgestellt, dass nach Impfungen mit einem mRNA-Impfstoff eine derartige thrombogene Konstellation so gut wie nie beobachtet worden sei. Für einen kausalen Zusammenhang zwischen Impfungen mit einem mRNA-Impfstoff und Thrombosen gebe es keine seriöse wissenschaftliche Lehrmeinung.

Die Revision wurde nicht zugelassen.

Quelle: Bayerisches Landessozialgericht

IMK Inflationsmonitor: Teuerungsraten mehrerer Haushaltstypen unter Inflationsziel

Hans-Böckler-Stiftung, Pressemitteilung vom 16.05.2024

EZB-Zinswende im Juni überfällig

Die Inflationsrate in Deutschland lag im April mit 2,2 Prozent nur noch knapp über dem Inflationsziel der Europäischen Zentralbank (EZB) von zwei Prozent. Die Teuerungsraten verschiedener Haushaltstypen, die sich nach Einkommen und Personenzahl unterscheiden, lagen relativ nah beieinander. Der Unterschied zwischen der höchsten und der niedrigsten haushaltsspezifischen Rate betrug 0,9 Prozentpunkte. Zum Vergleich: Im April 2023 waren es 1,9 Prozentpunkte und auf dem Höhepunkt der letzten Inflationswelle sogar 3,1 Prozentpunkte. Während einkommensschwache Haushalte im Mittel des Jahres 2022 und auch 2023 eine deutlich höhere Teuerung schultern mussten als Haushalte mit mehr Einkommen, war ihre Inflationsrate im April 2024 wie in den Vormonaten unterdurchschnittlich: Der Warenkorb von Alleinlebenden mit niedrigen Einkommen verteuerte sich im April um 1,4 Prozent, der von Familien mit niedrigen Einkommen um 1,6 Prozent. Das ergibt der neue IMK Inflationsmonitor, den das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung vorlegt. Insgesamt lag die Inflationsrate von fünf der untersuchten neun Haushaltstypen im April unter zwei Prozent, die der übrigen nur knapp darüber. Angesichts des schnellen Rückgangs der Inflation und einer schwachen Wirtschaftsentwicklung seien Zinssenkungen durch die Europäische Zentralbank (EZB) ab Juni überfällig, analysieren die Forschenden.

Dr. Silke Tober, IMK-Inflationsexpertin, und der wissenschaftliche Direktor Prof. Dr. Sebastian Dullien berechnen seit Anfang 2022 monatlich spezifische Teuerungsraten für neun repräsentative Haushaltstypen, die sich nach Zahl und Alter der Mitglieder sowie nach dem Einkommen unterscheiden. Seit kurzem liefert der Monitor ein erweitertes Datenangebot: Online lassen sich längerfristige Trends der Inflation für alle sowie für ausgewählte einzelne Haushalte im Zeitverlauf in interaktiven Grafiken abrufen.

Die längerfristige Betrachtung illustriert anschaulich, dass ärmere Haushalte während der letzten Teuerungswelle bis in den Sommer 2023 hinein besonders stark durch die Inflation belastet waren, weil sie einen großen Teil ihres schmalen Budgets für Güter des Grundbedarfs wie Nahrungsmittel und Haushaltsenergie ausgeben müssen. Diese waren lange die stärksten Preistreiber. Im Laufe der letzten Monate hat die Preisdynamik dort aber stark nachgelassen, so dass sich die einkommensspezifischen Differenzen seit dem Höhepunkt im Oktober 2022 deutlich verändert haben. Damals hatten Familien mit niedrigen Einkommen die höchste Inflationsbelastung im Haushaltsvergleich mit 11,0 Prozent. Dagegen waren es beim Haushaltstyp der Alleinlebenden mit sehr hohen Einkommen 7,9 Prozent. Vor einem Jahr, im April 2023, waren es Alleinlebende mit niedrigen Einkommen, die mit der höchsten Teuerungsrate konfrontiert waren – 8,1 Prozent. Alleinlebende mit sehr hohen Einkommen lagen auch in diesem Monat mit 6,2 Prozent deutlich niedriger und unter der allgemeinen Inflationsrate von damals 7,2 Prozent.

Dass die allgemeine Inflationsrate im April wie im März 2024 unverändert 2,2 Prozent betragen hat, liegt vor allem daran, dass zwar die Kerninflation ohne Lebensmittel und Energie spürbar zurückging, aber die Preise für Haushaltsenergie weniger stark als im Vormonat (-3,2 Prozent nach -4,6 Prozent), während zugleich die Nahrungsmittelpreise etwas stärker stiegen (1,1 Prozent nach 0,2 Prozent) und zudem die Kraftstoffpreise anzogen. Dabei erhöhte die Wiederanhebung des Mehrwertsteuersatzes auf Erdgas und Fernwärme die Inflationsrate um 0,2 Prozentpunkte. Ohne diesen Effekt wäre also die EZB-Zielinflation genau erreicht, so die Fachleute des IMK. Haushalte mit niedrigen und mittleren Einkommen waren davon geringfügig stärker betroffen als reiche, da Heizenergie in ihren Warenkörben eine größere Rolle spielt, ebenso wie Nahrungsmittel.

Dass Alleinlebende mit sehr hohen Einkommen mit 2,3 Prozent aktuell eine leicht höhere Inflationsrate haben als die übrigen Haushalte im Vergleich, liegt daran, dass diese Haushalte stärker als andere Freizeit- und Kulturdienstleistungen, Hotelübernachtungen, Restaurantdienstleistungen oder Gesundheitsdienstleistungen nachfragen, deren Preise aktuell deutlich anziehen. Das gilt tendenziell auch für Paare mit Kindern und hohen Einkommen, deren Warenkorb sich um 2,2 Prozent verteuerte. Die Inflationsraten von Paaren ohne Kinder und von Paaren mit Kindern und jeweils mittleren Einkommen betrug je 2,1 Prozent. Alleinlebende mit höheren Einkommen verzeichneten eine Teuerungsrate von 1,9 Prozent. Bei Alleinlebenden und bei Alleinerziehenden mit jeweils mittleren Einkommen legten die Preise im Jahresvergleich um je 1,8 Prozent zu.

„EZB hätte spätestens im April reagieren müssen“

Dullien und Tober rechnen trotz der Stagnation zwischen März und April mit weiter nachlassendem Preisdruck. Sie kritisieren, dass die EZB bislang die Chance verstreichen ließ, die Leitzinsen zu senken, trotz der sich zeitgleich eintrübenden Wirtschaftslage. „Auf diese deutlich veränderte Datenlage hätte die EZB spätestens im April reagieren müssen, zumal EZB-Präsidentin Christine Lagarde stets betont, die EZB würde datenbasiert agieren“, schreiben die Forschenden. Ein Umschwenken auf einen Zinssenkungskurs bei der nächsten EZB-Ratssitzung im Juni sei „angesichts des schnellen Rückgangs der Inflation und der geldpolitisch stark gedämpften Wirtschaftsaktivität überfällig.“

Quelle: Hans-Böckler-Stiftung

Keine „Kopien“: Anwalt erhält keine Erstattung für Scans

BRAK, Pressemitteilung vom 16.05.2024 zum Beschluss 1 W 12/24 des OLG Bamberg vom 02.04.2024

Scans sind keine auslagenfähigen Kopien gem. Nr. 7000 VV RVG. Daher kann auch keine Dokumentenpauschale geltend gemacht werden, so das OLG Bamberg.

Scannt ein Anwalt Dokumente aus einem Gerichtsverfahren ein, um sie besser bearbeiten zu können, kann er hierfür keinen Anspruch auf Erstattung der Dokumentenpauschale geltend machen, so das OLG Bamberg. Schließlich handele es sich bei Scans nicht um auslagenfähige Kopien gem. Nr. 7000 VV RVG. Zudem sei die Digitalisierung eines in Papierform geführten Verfahrens nicht wirtschaftlich und damit gem. § 91 Abs. 1 ZPO nicht erstattungsfähig (Beschluss vom 02.04.2024, Az. 1 W 12/24).

Ein Anwalt hatte sich in einem seit 2018 andauernden Rechtsstreit vom Gericht ca. 6.000 Seiten in fünf Aktenordnern zuschicken lassen und diese selbst zur anschließenden Bearbeitung eingescannt. Hierfür machte er im Rahmen der Kostenfestsetzung eine Dokumentenpauschale von über 1.000 Euro geltend. Der Rechtspfleger hielt diese Kosten für nicht erstattungsfähig. Auch mit einer sofortigen Beschwerde hatte der Anwalt keinen Erfolg. Der Rechtspfleger legte sie dem OLG vor, das die Kosten ebenfalls für nicht erstattungsfähig hielt – aus zwei Gründen.

Scans sind keine Kopien und außerdem nicht kostengünstig

Zum einen seien Scans bereits von Gesetzes wegen nicht erstattungsfähig, so das OLG Bamberg. Die Kosten für die Digitalisierung seien keine kostenrechtlich erstattungsfähigen Auslagen gemäß Nr. 7000 Abs. 2 i. V. m. Ziffer 2 und Ziffer 1 lit. c) VV-RVG. Allein für das Einscannen von Dokumenten falle seit der Neufassung der Nr. 7000 VV-RVG durch das 2. KostRMoG im Jahr 2013 keine Vergütung mehr an. Der Gesetzgeber habe damals explizit den Begriff „Ablichtung“ durch den Begriff „Kopie“ ersetzt, um das klarzustellen. Kopie im Sinne des Kostenrechts sei damit lediglich „die Reproduktion einer Vorlage auf einem körperlichen Gegenstand, bspw. Papier, Karton oder Folie“.

Das Einscannen eines Dokuments könne nur nach Nr. 7000 Anm. Abs. 2 VV-RVG bei der Berechnung der Dokumentenpauschale berücksichtigt werden. Dies sei nur der Fall, wenn auch die Voraussetzungen nach Nr. 7000 Ziffer 2 i. V. m. Ziffer 1 lit. d) VV-RVG vorlägen. Hierbei geht es aber andere Fallkonstellationen, die im konkreten Fall nicht vorgelegen hätten.

Darüber hinaus seien die Kosten schon deshalb nicht erstattungsfähig, weil sie nicht zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung bzw. Rechtsverteidigung notwendig gewesen seien (§ 91 Abs. 1 ZPO). Anwälte müssten ihre Prozessführung danach möglichst kostengünstig halten. Auflagen, die eine wirtschaftlich denkende Partei nicht für erforderlich hielte, seien hingegen nicht zu erstatten. Im vorliegenden Fall habe das Einscannen sehr hohe Kosten verursacht – und das nur, um dem Anwalt die Aktenführung zu erleichtern. Eine kostengünstigere Möglichkeit wäre es außerdem gewesen, die Unterlagen direkt in digitaler Form vom Gericht sowie dem Beklagten zu verlangen – dies hatte er aber nicht getan.

Quelle: Bundesrechtsanwaltskammer

Gleichbehandlung: Grenzgänger müssen die gleichen sozialen Vergünstigungen erhalten wie gebietsansässige Arbeitnehmer

EuGH, Pressemitteilung vom 16.05.2024 zum Urteil C-27/23 vom 16.05.2024

Ein belgischer Arbeitnehmer arbeitet in Luxemburg und wohnt in Belgien. Als Grenzgänger unterliegt er der luxemburgischen Regelung über das Kindergeld und bezog es seit mehreren Jahren für ein in seinem Haushalt aufgrund gerichtlicher Entscheidung untergebrachtes Pflegekind. 2017 entzog ihm die Caisse pour l’avenir des enfants (CAE) de Luxembourg (Zukunftskasse Luxemburg) die Bezugsberechtigung für dieses Kindergeld. Sie ist nämlich der Auffassung, dass Kindergeld nur für solche Kinder zu zahlen sei, die zu dem Grenzgänger in einem direkten Verwandtschaftsverhältnis (eheliche, uneheliche oder Adoptivkinder) stünden. Aufgrund gerichtlicher Entscheidung untergebrachte Pflegekinder, die in Luxemburg wohnen, haben hingegen Anspruch auf ein solches Kindergeld, das an die natürliche oder juristische Person gezahlt wird, die das Sorgerecht für sie innehat.

Die luxemburgische Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) fragt sich, ob die Vorschriften des luxemburgischen Sozialgesetzbuchs durch die Anwendung unterschiedlicher Anspruchsvoraussetzungen je nachdem, ob der Arbeitnehmer gebietsansässig oder gebietsfremd ist, eine indirekte Diskriminierung darstellen.

In seinem Urteil weist der Gerichtshof darauf hin, dass Grenzgänger im Hinblick darauf, dass sie Steuern und Sozialabgaben im Aufnahmemitgliedstaat aufgrund der dort von ihnen ausgeübten unselbstständigen Erwerbstätigkeit entrichten, zur Finanzierung der sozialpolitischen Maßnahmen dieses Staats beitragen. Deshalb müssen ihnen die Familienleistungen sowie die sozialen und steuerlichen Vergünstigungen unter den gleichen Bedingungen zugutekommen können wie inländischen Arbeitnehmern.

Nach Ansicht des Gerichtshofs führt eine Regelung wie die in Rede stehende zu einer Ungleichbehandlung und verstößt gegen das Unionsrecht.

Die Regelung eines Mitgliedstaats, nach der gebietsfremde Arbeitnehmer im Unterschied zu gebietsansässigen eine soziale Vergünstigung für in ihrem Haushalt untergebrachte Pflegekinder, für die sie das Sorgerecht innehaben, die ihren gesetzlichen Wohnsitz bei ihnen haben und tatsächlich und dauerhaft bei ihnen wohnen, nicht erhalten können, stellt nämlich eine indirekte Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit dar. Der Umstand, dass die Entscheidung über die Unterbringung von einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats als dem Aufnahmemitgliedstaat des betreffenden Arbeitnehmers erlassen wurde, kann auf diese Feststellung keinen Einfluss haben.

Ebenso wenig kann es darauf ankommen, ob der Grenzgänger selbst für den Unterhalt des in seinem Haushalt untergebrachten Pflegekindes aufkommt, wenn diese Voraussetzung nicht ebenfalls auf einen gebietsansässigen Arbeitnehmer, bei dem ein Pflegekind untergebracht ist, angewendet wird.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union

Personalmangel bei Gepäckverladung an Flughäfen als außergewöhnlicher Umstand

EuGH, Pressemitteilung vom 16.05.2024 zum Urteil C-405/23 vom 16.05.2024

Fluggastrechte: Bei einem Mangel an Flughafenpersonal für die Gepäckverladung, der zu einer großen Verspätung des Fluges geführt hat, kann es sich um einen „außergewöhnlichen Umstand“ handeln.

Im Jahr 2021 kam es bei einem von der Gesellschaft TAS ausgeführten Flug von Köln-Bonn (Deutschland) zur griechischen Insel Kos zu einer Verspätung von drei Stunden und 49 Minuten. Diese Verspätung war auf mehrere Gründe zurückzuführen, hauptsächlich aber auf einen Mangel an Personal des Flughafens Köln-Bonn für die Gepäckverladung in das Flugzeug.

Eine Reihe von Fluggästen, die von dieser Verspätung betroffen waren, hatten ihre etwaigen Ausgleichsansprüche an Flightright abgetreten. Dieses Unternehmen erhob bei den deutschen Gerichten Klage gegen TAS und machte geltend, dass die Verspätung TAS zurechenbar sei und nicht durch außergewöhnliche Umstände gerechtfertigt werden könne.

Nach dem Unionsrecht1 ist eine Fluggesellschaft nicht verpflichtet, für eine große Verspätung, d. h. eine Verspätung von mehr als drei Stunden, Ausgleichszahlungen zu leisten, wenn sie nachweisen kann, dass die Verspätung auf „außergewöhnliche Umstände“ zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.

Das mit dem Rechtsstreit befasste deutsche Gericht fragt den Gerichtshof, ob es sich bei einem Mangel an Personal bei dem für die Gepäckverladung in die Flugzeuge verantwortlichen Flughafenbetreiber um einen „außergewöhnlichen Umstand“ handeln kann.

Der Gerichtshof bejaht dies: Bei einem Mangel an Personal bei dem für die Gepäckverladung in die Flugzeuge verantwortlichen Flughafenbetreiber kann es sich um einen „außergewöhnlichen Umstand“ handeln.

Ein „außergewöhnlicher Umstand“ liegt vor, wenn das Vorkommnis erstens weder seiner Natur noch seiner Ursache nach Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit der Fluggesellschaft ist und zweitens von ihr nicht tatsächlich beherrschbar ist.

Es ist Sache des deutschen Gerichts, zu beurteilen, ob diese beiden Voraussetzungen erfüllt sind. Demzufolge wird es erstens zu beurteilen haben, ob im vorliegenden Fall die bei der Gepäckverladung festgestellten Mängel als allgemeine Mängel anzusehen sind. Wäre dies der Fall, könnten die Mängel kein Vorkommnis darstellen, das Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit der Fluggesellschaft ist. Zweitens wird es zu beurteilen haben, ob die Mängel von TAS nicht beherrschbar waren. Dies wäre insbesondere dann nicht der Fall, wenn TAS befugt wäre, eine tatsächliche Kontrolle über den Flughafenbetreiber auszuüben.

Selbst wenn das deutsche Gericht feststellen sollte, dass es sich bei dem fraglichen Personalmangel um einen „außergewöhnlichen Umstand“ handelt, wird TAS ferner zur Befreiung von ihrer Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen an die Fluggäste zum einen nachweisen müssen, dass sich dieser Umstand auch dann nicht hätte vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären und zum anderen, dass sie gegen dessen Folgen alle der Situation angemessenen Vorbeugungsmaßnahmen ergriffen hat.

Fußnote

1 Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union

Anspruch auf gesetzlichen Mindestlohn bei Tätigkeiten im Yoga-Ashram

LAG Hamm, Pressemitteilung vom 14.05.2024 zu den Urteilen 6 Sa 1128/23, 6 Sa 1129/23 und 6 Sa 1112/23 vom 14.05.2024

Ergebnis der Berufungsverfahren

Der Beklagte ist ein gemeinnütziger Verein, der Zentren und Seminarhäuser betreibt. Die drei klagenden Parteien waren sog. Sevakas, die für einige Zeit in einem Ashram des Beklagten lebten und Dienste verrichteten. Gegenstand der Sevadienste sind beispielsweise Tätigkeiten in Küche, Haushalt, Garten, Gebäudeunterhaltung, Werbung, Buchhaltung und die Durchführung von Yoga-Unterricht sowie die Leitung von Seminaren. Die drei klagenden Parteien haben Anspruch auf Zahlung des gesetzlichen Mindestlohns aufgrund ihrer Tätigkeit für den Beklagten in dem Yoga-Ashram. Das hat die 6. Kammer des Landesarbeitsgerichts Hamm am 14. Mai 2024 entschieden.

Es handelt sich bei den jeweiligen Rechtsbeziehungen um Arbeitsverhältnisse. Der Beklagte ist in den streitgegenständlichen Zeiträumen weder Religions- noch Weltanschauungsgemeinschaft gewesen. Auch die Vereinsautonomie steht den Ansprüchen nicht entgegen. Dabei besteht in zwei der Verfahren schon insoweit eine Bindungswirkung aufgrund der vorhergehenden Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts. Neue Tatsachen, die zu einer anderen rechtlichen Wertung führen würden, sind nicht gegeben. Bei dem Umfang der Zahlungsansprüche sind die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden sowie weitere Zeiten zu berücksichtigen, für die ein Zahlungsanspruch in Höhe des Mindestlohns besteht. Dabei ist aufgrund der durch die Parteien vorgetragenen Tatsachen jeweils von einem geringeren Betrag auszugehen als von den klagenden Parteien geltend gemacht.

Die Berufungen des Beklagten gegen die Urteile des Arbeitsgerichts Detmold blieben damit weitestgehend erfolglos. Das Landesarbeitsgericht hat die (erneute) Revision nicht zugelassen. Zwei der Berufungsverfahren waren bereits beim Bundesarbeitsgericht anhängig und wurden zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Quelle: Landesarbeitsgericht Hamm

Pflicht zur Nutzung des beSt auch bei Klageerhebung über das beklagte Finanzamt

FG Niedersachsen, Mitteilung vom 16.05.2024 zu den Urteilen 13 K 114/23 und 13 K 115/23 vom 24.04.2024

§ 47 Abs. 2 FGO dispensiert nicht von der Einhaltung der Formvorschriften aus §§ 52a, 52d FGO, sodass ein zur elektronischen Einreichung verpflichteter Steuerberater die Klage nicht fristwahrend in Schriftform gemäß § 64 Abs. 1 FGO beim Finanzamt anbringen kann.

§ 47 Abs. 2 FGO dispensiert nicht von der Einhaltung der Formvorschriften der §§ 52a, 52d FGO (Fortsetzung von FG Hamburg, Gerichtsbescheid vom 22. Januar 2019 – 2 K 212/18; Finanzgericht Berlin-Brandenburg, Gerichtsbescheid vom 2. Mai 2019 – 7 K 7019/19; FG Münster, Urteil vom 26. April 2017 – 7 K 2792/14 E). Dies gilt nicht nur für in elektronischer Form angebrachte Klageschriften, sondern schließt für den zur elektronischen Einreichung verpflichteten Steuerberater auch die Anbringung in Schriftform gemäß § 64 Abs. 1 FGO aus.

Der Regelungsgehalt des § 47 Abs. 2 FGO beschränkt sich für Steuerberater damit auf die Einreichung über das besondere elektronische Steuerberaterpostfach (beSt) an das für diese Zwecke jedenfalls konkludent eröffnete besondere elektronische Behördenpostfach (beBPo) des Finanzamtes.

Eine Wiedereinsetzung in die Klagefrist wegen eines Irrtums über die Möglichkeit der schriftlichen Einreichung beim beklagten Finanzamt kommt nicht in Betracht. Es handelt sich nicht um eine nicht vorhersehbare Vorschärfung der Auslegung verfahrensrechtlicher Vorschriften.

Der 13. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts hat sich in zwei Verfahren mit der Frage befasst, ob ein Steuerberater nach Einführung des besonderen Steuerberaterpostfaches (beSt) wirksam Klage durch Einwurf der Klageschrift in den Briefkasten des Finanzamtes erheben konnte.

In den Streitfällen wandte sich der Berater im Auftrag seiner Mandanten gegen Änderungsbescheide nach Durchführung einer Außenprüfung. Der Steuerberater erhob die Klage in Papierform, indem er diese am letzten Tag der Klagefrist in den Briefkasten des beklagten Finanzamtes einlegte. Das Finanzamt übermittelte die Klage sodann gemäß § 47 Abs. 2 Satz 2 Finanzgerichtsordnung (FGO) – nach Fristablauf – an das Finanzgericht.

Nach Auffassung der Kläger habe der steuerliche Berater die Klagefrist nach § 47 Abs. 2 FGO gewahrt. Die Möglichkeit einer Klageeinreichung durch den Steuerberater in Papierform beim Finanzamt bestehe auch nach den kürzlich erfolgten Gesetzesänderungen fort, insbesondere suspendiere die Vorschrift des § 52d FGO unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt die Sondernorm des § 47 Abs. 2 FGO. Ferner sei dem anbringenden Steuerberater ein fristwahrendes Alternativverhalten mittels Übertragung eines elektronischen Dokuments unter Verwendung des beSt zum Zeitpunkt der Klageeinreichung nicht möglich gewesen, da diesem von der Bundesteuerberaterkammer noch kein beSt empfangsbereit zur Verfügung gestellt worden sei. Das beklagte Finanzamt vertrat demgegenüber die Rechtsauffassung, die Klage sei unzulässig, da für den steuerlichen Berater eine aktive Nutzungspflicht des beSt gemäß § 52d Satz 2 i. V. m. Satz 1 i. V. m. § 52a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Var. 2 FGO i. V. m. § 86d Abs. 1 Satz 1 StBerG bestanden habe.

Der 13. Senat ist den Argumenten der Kläger nicht gefolgt und hat die Klage abgewiesen. Die Klage sei unzulässig, da sie nicht innerhalb der Klagefrist erhoben worden sei.

Dem liegt die Rechtsauffassung des Gerichts zugrunde, dass die Klage durch Einwurf in den Briefkasten des Finanzamts nicht fristwahrend erhoben werden konnte. Zwar gilt die Frist für die Erhebung der Klage gemäß § 47 Abs. 2 FGO auch dann als gewahrt, wenn die Klage bei der Behörde, die den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, innerhalb der Frist angebracht wird. Der Steuerberater habe die Klage in Papierform jedoch nicht fristwahrend i. S. d. § 47 Abs. 2 FGO „anbringen“ können.

Denn auch für die fristwahrende Übermittlung an das Finanzamt nach § 47 Abs. 2 FGO sei die Einhaltung der geltenden Formvorschriften und damit stets die elektronische Form erforderlich. Unzutreffend sei die Auffassung der Kläger, das „Anbringen“ nach § 47 Abs. 2 FGO müsse nur wenn es elektronisch erfolge, den Anforderungen des § 52a FGO entsprechen und könne daneben weiterhin mittels eines eigenhändig unterschriebenen Dokuments, mithin in Schriftform, erfolgen. Richtigerweise dispensiere § 47 Abs. 2 FGO jedoch nicht von der nunmehr geltenden elektronischen Einreichungspflicht nach § 52d FGO. M. a. W.: Derjenige, den die elektronische Einreichungspflicht gegenüber dem Gericht gemäß § 52d FGO treffe, müsse die elektronische Übermittlung gemäß § 52a FGO auch bei Beschreiten des von § 47 Abs. 2 FGO eröffneten Weges über das Finanzamt wählen. Es seien keine Gründe dafür erkennbar, an eine beim Finanzamt eingereichte Klage geringere Formalanforderungen zu stellen. Vielmehr sprechen mehrerlei Gründe gegen einen Dispens.

So streite schon die systematische Stellung des § 47 Abs. 2 FGO recht deutlich dafür, dass ihm keine Regelung zur Form innewohnt. Denn § 47 FGO regelt lediglich die Klagefrist. Ferner wären die Bemühungen des Gesetzgebers, den elektronischen Rechtsverkehr zu stärken und für bestimmte Gruppen als verpflichtend zu erklären auch obsolet, wenn die Klage über den Weg der Anbringung gemäß § 47 Abs. 2 FGO weiterhin per Brief erhoben werden könnte. Und schließlich komme dem Sinn der Vorschrift des § 47 Abs. 2 FGO die entscheidende Bedeutung zu. Der Gesetzgeber habe für den von einem Verwaltungsakt betroffenen Bürger den Zugang zu den Finanzgerichten erleichtern wollen. Der Bürger habe die gesetzliche Klagefrist bis zum letzten Augenblick – ggf. auch durch einen Bevollmächtigten – dadurch nutzen können sollen, dass er die Zeit der Postbeförderung bis zu dem in der Regel auswärtigen Finanzgericht nicht habe beachten müssen und die Klage in den Briefkasten des regelmäßig näher gelegenen Finanzamts habe einwerfen können. Aus diesem Grund werde allenthalben auch hervorgehoben, dass das Finanzamt durch § 47 Abs. 2 FGO gleichsam zum Briefkasten des Finanzgerichts wird. In diesem Lichte erschiene es widersinnig, wenn der gegenüber dem Finanzgericht zur elektronischen Übermittlung verpflichtete Berufsträger wegen der erstrebten Erleichterung, den Postlauf nicht beachten zu müssen, von seiner Pflicht wieder befreit würde. Denn der verpflichtete Berufsträger sei aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden elektronischen Infrastruktur auf die Erleichterung gerade nicht angewiesen, weil er durch diese im Rahmen der Kommunikation mit dem Gericht von dem Postlauf nicht mehr abhängig sei.

Schließlich sei der Steuerberater im konkreten Fall auch zur Einreichung in der Form des § 52a FGO verpflichtet gewesen, da ihm nach der finanzgerichtlichen Rechtsprechung ein sicherer Übermittlungsweg „zur Verfügung“ gestanden habe, zu dessen Nutzung er nach § 52d Satz 2 FGO verpflichtet war.

Quelle: Niedersächsisches Finanzgericht, Newsletter 5/2024